Szenen einer Apotheke
Es ist aber auch gemein. Gestern war die Schachtel mit noch voll, heute früh (Samstag) wird mit Müh und Not die letzte Tablette des Betablockers aus dem Blister gedrückt. Und das lange Wochenende steht vor der Tür. Schnell zur Apotheke. Man kennt sich ja schließlich, holt das Medikament regelmäßig, dürfte doch kein Problem sein, die Formalie mit dem Rezept kann man ja nächste Woche nachholen. Doch – da ist ein Problem.
So einfach ist es nicht
Die Enttäuschung ist regelmäßig groß, wenn wir in der Apotheke erklären müssen, dass die Abgabe verschreibungspflichtiger Arzneimittel ohne gültige Verordnung (Rezept) verboten ist und empfindliche Strafen nach sich ziehen kann.
- 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AMG: „Arzneimittel, die [durch die Arzneimittelverschreibungsverordnung definierte Stoffe enthalten] dürfen nur bei Vorliegen einer ärztlichen, zahnärztlichen oder tierärztlichen Verschreibung an Verbraucher abgegeben werden. […]“
- 96 Nr. 13 AMG: „Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer […] entgegen § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 […] Arzneimittel abgibt […].
Das bedeutet, der Apotheker (und nicht der Patient!) begeht eine vorsätzliche Straftat, wenn er ein verschreibungspflichtiges Arzneimittel ohne Rezept aushändigt. Beispiele für Verurteilungen in solchen Fällen gibt es genug (z.B hier: https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/daz-az/2010/daz-45-2010/rezeptpflicht-bedeutet-verantwortung). Die Konsequenzen reichen von Geldstrafen bis zum Verlust der Approbation. Ob sich auch der Patient der Anstiftung zu einer Straftat schuldig macht, ist wohl bisher noch nicht gerichtlich verhandelt worden.
Verschreibungspflicht gilt ab 1 Tablette
Der Straftatbestand lässt sich weder durch Reduktion der Menge („Ich brauche doch nur 3 Tabletten übers Wochenende“) noch durch sofortige Bezahlung („Ich kann auch das Medikament selbst zahlen!“) aus der Welt schaffen. Es reicht eine einzige Tablette, um gegen geltendes Recht zu verstoßen.
Aber warum ist man hier überhaupt so streng? Arzneimittel sind keine ungefährlichen Lutschbonbons, das gilt erst recht für die verschreibungspflichtigen. Darum hat der Gesetzgeber festgelegt, dass ein Arzt die Entscheidung für oder gegen die Anwendung treffen muss. Damit einher geht auch die Verantwortung – sie trägt hauptsächlich der Arzt. Damit dieser eine vernünftige Entscheidung treffen kann, ist eine ausreichende Anamnese, verlässliche Diagnose, gewissenhafte Nutzen-Risiko-Abwägung, genaue Dosisfindung, viel Sachkenntnis und noch mehr Erfahrung nötig.
Theorie und Praxis
Soviel zur Theorie – in der Praxis sieht das manchmal anders aus. Die „Hürde“, um während der Öffnungszeiten der Arztpraxis an ein Rezept zu kommen, erscheint oftmals sehr niedrig. Jedenfalls wird nicht jedes Mal aufs Neue die oben beschriebene Abfolge von Anamnese bis Dosisfindung durchlaufen. Völlig zurecht, das wäre oftmals Zeitverschwendung. Und wenn es doch in der Arztpraxis auch nicht mehr als 1 Minute dauert bis hinterm Tresen eine der „netten Damen“ das Rezept fertig hat, warum stellt sich der Apotheker dann so an? Antwort: Weil die Abgabe eines verschreibungspflichtigen Arzneimittels ohne gültige Verordnung eine dokumentierte Straftat darstellt – siehe oben.
Was tun?
Zurück zur samstäglichen Situation in der Apotheke mit der leeren Betablocker-Schachtel auf dem Tisch. Wenn der Gesetzgeber dem Apotheker unter Strafandrohung das Herausrücken einer neuen Schachtel verbietet, wird er doch hoffentlich eine andere Lösung parat haben? Hat er. Der sogenannte „ärztlichen Bereitschaftsdienst“ (GKV-Notdienst), bundesweit unter der Telefonnummer 116117 zu erreichen. Der ist im nördlichen Heidekreis am Krankenhaus Soltau angesiedelt, von Munster etwa 20 km entfernt. Per Auto ca 25 min, mit den Öffis zwischen 60 min und 90 min inkl. 1 – 2 mal Umsteigen. Wenn man ein Auto sein Eigen nennt und eigentlich eh nichts Anderes mehr vorhat, sicher kein Problem. Dort, beim kassenärztlichen Bereitschaftsdienst in Soltau, trifft man dann auf einen Arzt, der einem den nötigen Betablocker verordnen darf. Aber „kann“ er das im eigentlichen Sinn? Ohne Kenntnis des Patienten und seiner Vorgeschichte? Ohne ausführliche Anamnese und Diagnostik? Ohne alle nötigen Fakten für eine gewissenhafte Nutzen-Risiko-Abwägung? In der Realität reicht eine glaubhafte Versicherung des Patienten, er würde den Betablocker schon X Jahre regelmäßig einnehmen, aus. Im besten Fall.
Wer den Schaden hat…
Wenn man Pech hat, benötigt man ein starkes Schmerzmittel das nur auf einem Betäubungsmittel-Rezept verordnet werden darf. Es kann sein, dass der diensthabende Arzt beim GKV-Notdienst, solche Rezepte nicht zur Verfügung hat. Oder es kann sein, dass man in Soltau auf einen ärztlichen Homöopathie-Anhänger trifft, der einem alle Medikamente ausreden will und ein paar Zuckerkügelchen rezeptiert. Alles schon mehrfach passiert…
Vorbild Schweiz?
Nun gäbe es eigentlich einen viel direkteren Weg zum benötigten Arzneimittel, der einfach nachzuvollziehen ist: Der Patient geht in seine Stammapotheke, der Apotheker schaut in das Patientendossier und macht sich anhand der Medikationsdaten der letzten Monate ein Bild über die Dauermedikation. Mit seiner Sachkenntnis und einer Nutzen-Risiko-Abwägung entscheidet er, dass der Nutzen einer kontinuierlichen Einnahme der Dauermedikation das Risiko möglicher unerwünschter Wirkungen durch das Medikament weit überwiegen. Die Alternative wäre nämlich eine Unterbrechung der bisherigen Dauertherapie, was sicherlich die schlechteste aller Optionen darstellt. Und siehe da – genauso wird es in der Schweiz gehandhabt: https://pharmama.ch/2013/02/28/nicht-mein-problem/
Persönliches Fazit und Wunsch an die Politik
So lange es mir als Apotheker unter Strafe verboten ist, verschreibungspflichtige Arzneimittel ohne Rezept abzugeben, wird es in der Sonnen-Apotheke in Munster diesen Fall auch nicht geben. Dafür hänge ich zu sehr an meinem Job.
Aber: Ich fordere einen Ermessensspielraum für den Apotheker, der es ihm ermöglicht ein verschreibungspflichtiges Medikament unter bestimmten, engen Voraussetzungen auch ohne Rezept abgeben zu dürfen. Diese Bedingungen könnten sein: Bekannter Patient, bekannte Dauermedikation mindestens der letzten 6 Monate, Nichtverfügbarkeit des behandelnden Arztes (Urlaub, Wochenende, keine Sprechzeiten mehr), definierte Wirkstoffklassen und/oder Indikationsgebiete, ausführliche Dokumentation und Begründung des Einzelfalls inkl. Nutzen-Risiko-Abwägung sowie nachträgliche Information des Hausarztes.
Durch die Beteiligung eines Experten für Arzneimittel (ein Apotheker) würde sichergestellt werden, dass einerseits die notwendige Sorgfalt und Vorsicht angewendet wird, andererseits aber auch der Patienten angemessen versorgt werden kann. Die Forderung an die Politik lautet daher: Mehr Verantwortung für die Apotheker, damit Patienten besser versorgt werden können und Einnahmelücken vermieden werden!